"Wir Deutschen verneigen uns aufrichtig vor den Opfern der grausamen Massaker in Kragujevac und Kraljevo"

Gastbeitrag

Gastbeitrag von Claudia Roth, die als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags  anlässlich des 80. Jahrestages der Massaker als erste höhere Repräsentantin Deutschlands nach Serbien reiste. 

An diesem 21. Oktober 2021 jährt sich das verbrecherische Massaker an der Zivilbevölkerung in Kragujevac und Kraljevo durch die deutsche Wehrmacht zum 80. Mal. Durch sogenannte „Vergeltungsaktionen“ kamen an diesem Tag über 2.800 Menschen, darunter 300 Schülerinnen und Schüler ums Leben. Vorausgegangen war am 6. April 1941 der deutsche Überfall auf das damalige Königreich Jugoslawien durch die Bombardierung Belgrads. Es folgte die Einrichtung eines Konzentrationslagers auf dem Belgrader Messegelände „Sajmište“; für die Zivilbevölkerung bedeuteten der deutsche Einmarsch und die anschließende Besatzung Zerstörung, unermessliches Leid und Tod. Der 21. Oktober ist deshalb einer der vielen sehr wichtigen Jahrestage, um zu erinnern - an die Opfer, an das Leid der Hinterbliebenen, an das abscheuliche Unrecht, um ein aktives Erinnern in die Zukunft zu ermöglichen, auch und gerade dann, wenn Zeitzeuginnen und –zeugen nicht mehr da sind. Wir Deutschen verneigen uns aufrichtig vor den Opfern und ihren Angehörigen dieser Menschheitsverbrechen.

Der Balkan und Serbien sind in der Erinnerung der Deutschen an den Zweiten Weltkrieg noch viel zu oft ein Nebenschauplatz. Die grausamen Massaker in Kraljevo und Kragujevac sind historische Fakten der Schande und der Schuld, die tiefe Spuren bei den Überlebenden und Hinterbliebenen sowie im kollektiven Gedächtnis hinterlassen haben. Unser Weg, damit umzugehen, ist, die Erinnerung an diese Taten wach zu halten und darauf aufbauend gute und freundschaftliche Beziehungen zueinander, zu unseren serbischen Freunden und Partnern, zu pflegen. Vollständige Aussöhnung kann nur gelingen durch ehrliche Aufarbeitung und Akzeptanz der historischen Ereignisse und durch Bände, die wir miteinander knüpfen. Die Erinnerung an das Geschehene muss wachgehalten werden, um die Möglichkeit einer Wiederholung so gering wie nur irgend möglich zu halten, aber auch um sie als Erinnerung in die Zukunft zu tragen. Ich werde nach Serbien kommen, um der Wichtigkeit des gemeinsamen Erinnerns als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags Ausdruck zu verleihen.

Bei meinen Reisevorbereitungen habe ich gelernt, dass es in den vergangenen 80 Jahren verschiedene Phasen der Erinnerung – auch vor dem Hintergrund des Kalten Krieges - an die Verbrechen in Kragujevac gegeben hat. Nach dem Krieg war es deutschen Repräsentanten zunächst verboten, „Šumarice“ bei Kragujevac zu besuchen. Offizielle Besuche begannen in den späten 1950er Jahren, zunächst von Seiten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), ab den 1970er Jahren auch durch die Bundesrepublik Deutschland. Zum 75-jährigen Gedenken 2016 besuchte eine Delegation der Deutschen Botschaft und des Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gemeinsam mit Repräsentanten der Stadt den Gedenkpark, den Soldatenfriedhof und das Museum „21. Oktober“. Die wichtigste Botschaft damals wie heute war gekennzeichnet von der Übernahme von Verantwortung für das, was geschehen war und dem Angebot von Versöhnung. Es erfüllt mich mit Demut aber auch großer Dankbarkeit, dass das Angebot der Versöhnung insoweit angenommen wurde, dass eine Repräsentantin Deutschlands sich vor den Opfern in Kragujevac gemeinsam mit serbischen Gastgebern verneigen darf. Keineswegs eine Selbstverständlichkeit.

Bis heute gibt es viele Familien in Kragujevac, die ihre Angehörigen damals verloren haben; das ist nicht zuletzt Verpflichtung für uns, die Erinnerung an sie wachzuhalten. Erinnerungskultur ist etwas Lebendiges, sie entwickelt sich und muss kontinuierlich gepflegt werden, damit sie für spätere Generationen nicht verblasst. In Deutschland haben wir deswegen erst vor kurzem eine Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft eingerichtet und damit auch den Opfergruppen einen Ort der Aufklärung und des Austausches gewidmet, die bisher weniger oder noch gar nicht im Fokus unserer Erinnerung standen. Ich hoffe, dass unsere Teilnahme an der Gedenkfeier in Kragujevac ein klares Signal sendet, dass die Erinnerung an das monumentale Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, das das faschistische Deutschland über Europa und die Welt gebracht hat, ein parteiübergreifender breiter Konsens des Erinnerns ist.

Die Tragödie von Kragujevac muss immer wieder neu erzählt werden, in Schulbüchern, Museen, in künstlerischen Darstellungen, für eine neue Generation von Jugendlichen, die diesem Ereignis möglicherweise unwissend oder unsensibel gegenübersteht. Wir als Nachfolger derer, die dieses Verbrechen begangen haben, sind verpflichtet, alle mutigen Stimmen zu unterstützen, die öffentlich jede Form von „Schlussstrich“ der Geschichtsaufarbeitung ablehnen. Stimmen, die einen solchen „Schlussstrich“ fordern, stellen wir uns heute noch auch im Deutschen Bundestag entgegen. Die Bedeutung der Gedenkstätte und des Museums als Orte des Lernens und der Erinnerung, Schüler- und Forschungsgruppen, die sich mit der Thematik befassen sowie Vereine und Organisationen, die zur Erinnerungskultur arbeiten, sind in diesem Zusammenhang von unschätzbarem Wert.

Die wichtigste Anstrengung, die wir heute in diesem fragilen Klima des aufkommenden Populismus und der Umschreibung der Geschichte in ganz Europa unternehmen können, besteht darin, in Bildung zu investieren und weiter über die Ereignisse und Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs zu sprechen, aber auch darüber, was ihnen vorausging und sie ermöglichte, um daraus zu lernen. Es braucht mehr denn je ein Erinnern in die Zukunft.

Die EU wurde ja gegründet in der Ablehnung des Faschismus, der nationalen Egoismen und im Geiste der Aussöhnung ehemaliger Kriegsparteien. Es ist ein zivilisatorischer Fortschritt, dass die europäischen Verträge uns heute als Staatengemeinschaft zu den Werten von Pluralismus, Menschenrechten, Demokratie und Menschenwürde verpflichten.


Dieser Beitrag ist als Erstveröffentlichung in der serbischen Tageszeitung „Blic“ anlässlich des Besuchs in Serbien zum 80. Jahrestag der Massaker von Kraljevo und Kragujevac vom 20. – 22. Oktober 2021 erschienen.